Films

Richtung Nowa Huta


A 2012 2K DCP 80 Min
Sprache: polnisch, englisch
Untertitel: deutsche, englische

Regie: Dariusz Kowalski
Kamera: Martin Putz
Montage: Dieter Pichler
Ton: Mariusz Wawrzen
Sounddesign: Gailute Miksyte
Mischtonmeisterin: Sabine Maier
Farbkorrektur: Kurt Hennrich
Produzent: Manfred Neuwirth
Produktion: Medienwerkstatt Wien

Richtung Nowa Huta

Richtung Nowa Huta 2012, Film Still: Martin Putz

Jugendliche drehen mit ihren Autos Kreise auf einem stillgelegten Industriegelände. Ein frischvermähltes Ehepaar lässt sich in den verfallenen Baracken einer Fabrik fotografieren.  Der Touristenführer fährt Besucher mit einem Trabanten durch die Stadt und erläutert ihnen Schauplätze der Auseinandersetzungen von 1989. Drei Szenen aus Dariusz Kowalskis Dokumentarfilm Richtung Nowa Huta, die dessen Ausrichtung trefflich veranschaulichen: Gegenwart und Geschichte bilden keine zwei voneinander getrennten Schichten, sondern durchdringen und kommentieren sich wechselseitig. Der Film muss keine direkte Auseinandersetzung mit der Vergangenheit suchen, denn diese wird hier wie von selbst zum Thema – als wäre sie ein Requisit des Ortes, an dem man früher oder später ohnehin vorbeikommen muss.
Kowalski verließ die polnische Stadt Nowa Huta, die heute zu Krakau gehört, als Jugendlicher auf der Flucht und kehrt nun zurück, um sich ein Bild eines Ortes zu machen, den er, wie er selbst sagt, eigentlich kaum kannte. Entsprechend nüchtern fällt sein Blick auf die Stadt aus, die als Stätte der Stahlproduktion in der Wendezeit eine bedeutende Rolle spielte. Der Filmemacher, obgleich manchmal selbst vor der Kamera zu sehen, verzichtet auf subjektive Phrasierungen, er klaubt Eindrücke, Bilder (auch alte Aufnahmen), Erinnerungen von Arbeitern, von einem Künstler auf, dazwischen sind immer wieder Alltagsmomente vom Sozialleben der Stadt zu sehen. Statt Menschen, die zur Nostalgie neigen, filmt Kowalski bevorzugt solche, die mit dem einmal Gewesenen auf ungezwungene Weise umgehen (oder deren Erinnerung noch gar nicht lang genug zurückreicht): Richtung Nowa Huta ist ein Stadtporträt, das sich im besten Sinn als zeitgenössisch versteht, ein Film über das Hier und Jetzt (und seine vielen Vorgeschichten).
(Text, Dominik Kamalzadeh)

Toward Nowa Huta

Young people spin their cars around in the closed-down industrial grounds. A newlywed pair has their picture taken in dilapidated barracks. A tourist guide drives visitors through the city in his Trabant, pointing out the sites of clashes from 1989. Three scenes from Dariusz Kowalski’s documentary Toward Nowa Huta, which offer splendid illustration of its organization: present and past mutually penetrate and comment on one another rather than forming two separate planes. The film does not have to search for a direct confrontation with the past; the theme presents itself automatically, as it were, like an onsite prop that one would have to pass by, anyway, sooner or later.
Kowalski fled the Polish city Nowa Huta, which is currently part of Krakow, as a youngster. He has now returned to gather a picture of the place, since, as he says, he hardly knows it. The city played an important role during the transition years as a site for steel production, and Kowalski’s view of it is correspondingly sober. Although the filmmaker can sometimes be seen in front of the camera, he refrains from subjective phrasings and takes up impressions, images (also old recordings), memories from workers, from an artist; and in between, everyday moments from social life in the city. Rather than filming people who tend toward nostalgia, Kowalski favors those dealing effortlessly with what once was (or those whose memories do not even reach back far enough). Toward Nowa Huta is a portrait of a city that considers itself contemporary in the best sense of the term, a film about the here and now (and its many histories).

(Dominik Kamalzadeh)
Translation: Lisa Rosenblatt


Presse

Austro-Filmfest: Pädophile und Krokodile.
Christoph Huber, Die Presse,  25.03.2012

Wesentlich wärmer war der dokumentarische Sieger „Richtung Nowa Huta“: Dariusz Kowalski kehrte dafür in die polnische Stahlstadt zurück, aus der er als Jugendlicher geflohen war. Wieder ausgepackte Solidarność-Fotos und Erinnerungen an die erzbischöflichen Leistungen des späteren Papstes Karol Wojtyła liefern historische Schichten zum Gegenwartsbild der in Auflösung begriffenen Stadt. Ein junger Touristenführer kurvt im Trabant durch die einstige kommunistische Mustersiedlung und kommentiert, dass es schwer gewesen wäre, einfach „Stalin ist böse“ an einem Ort zu sagen, wo Hunderttausende dem Diktator ihre Wohnung verdanken. Zwischen starken Tableaus gibt es persönliche, ungezwungene Momente, ohne eine Pointe anzusteuern: ein Zeitbild, das sich aus dem Alltäglichen speist.



Die Überwindung von Raum, Form und Zeit
Dominik Kamalzadeh und Isabella Reicher,
DER STANDARD, 26.3.2012

Mit Dariusz Kowalski wurde einer jener Regisseure des Festivals prämiert, die sich erfolgreich an eine neue Form heranwagen. Kowalski war bisher für experimentelle Arbeiten bekannt, in Richtung Nowa Huta bewegt er sich nun in die polnische Stadt seiner Jugend, die ob ihrer Stahlproduktionsstätten auch für die Solidarnosc-Bewegung von 1989 wichtig war.

Osteuropa revisited
Die Schönheit dieses Films liegt in seiner konzeptuellen Idee, Vergangenheit nur in davon durchzogenen Gegenwarten zu zeigen. Von Touristenführern, die ein wenig Ostalgie verkaufen, in Fotografien konkretisierten Erinnerungen oder ganz im Jetzt versunkenen Teenagern erzählt dieser Film nüchtern-beobachtend – und motiviert damit den Zuschauer, selbst denkerisch aktiv zu sein.




Schweigen und Fuchteln
Taz. Die Tageszeitung,  28.03.2012

Zwischen Geschichtsvergessenheit und Gegenwartsdiagnostik: Provokationen und Tendenzen des österreichischen Kinos auf der Diagonale in Graz.
von Dominik Kamalzadeh

Dariusz Kowalski war bisher für experimentelle Arbeiten bekannt, in „Richtung Nowa Huta“ bewegt er sich nun in die polnische Stadt seiner Jugend zurück, die ob ihrer Stahlproduktionsstätten auch für die Solidarnosc-Bewegung von 1989 Bedeutung erlangt hat. Die besondere Qualität dieses Films liegt in seiner konzeptuellen Idee, Vergangenheit nur in davon durchzogenen Gegenwarten zu zeigen. Auf die persönlichen Anknüpfungspunkte verzichtet Kowalski beinahe ausschließlich. Von Touristen-Guides, die an Schauplätze der Revolution führen, über in Fotografien konkretisierte Erinnerungen der Vätergeneration bis zu ganz im nebulösen Heute versunkenen Teenagern erzählt dieser Film auf eine nüchtern-beobachtende Weise. Die ideologische Ablöse – statt der Kommunismus stiftet mittlerweile der Katholizismus die Ikonen – gerät dabei ganz selbstverständlich und trotzdem wie nebenbei ins Bild. Hier erscheinen die Zeiten endlich im Fluss.