film

source fragments, erased units

Text, David Komary


“Seiner Etymologie zum Trotz ist es nicht das Sehen,
sondern die Zeit, die das Video charakterisiert”
Maurizio Lazzarato

Die Ausstellung source fragments, erased units thematisiert das Verhältnis von Zeit, Medien und Wahrnehmung und bildet damit die Fortsetzung der temporalontologischen Fragestellungen in time offset, phase signatures (Juni 2007). In Rekurs auf die Thematisierung des Zeitlichen in medientechnologischem und soziohistorischem Kontext verschiebt sich der Fokus nun vom intervallbasierten Laufbild1 hin zum videographischen Bild, oder besser: Bildkontinuum. Dariusz Kowalski und Flora Watzal analysieren und befragen das Medium Video (Fernsehen) hinsichtlich seiner Rückwirkungen auf die Zeitwahrnehmung und das Zeitbewusstsein, das heißt, sie untersuchen den reziproken Zusammenhang von Bildsystem und mentalem System sowie die Implikationen der semantischen Synthesen der Bilder. Das Dispositiv des Fernsehens in der Bildanalyse Watzals steht dabei der audiovisuellen Synthese (voice-over-narration) von Dariusz Kowalski gegenüber.
Bei der Konfrontation dieser beiden Positionen verweist der Titel source fragments, empty units auf zweierlei: einerseits auf Fragmentierung, semantische Entkopplung bis hin zur Auflösung des Signifikationszusammenhangs von Bild und ‘Bildgegenstand’ (source fragments), andererseits auf ein Moment der ikonischen und semantischen Entleerung (erased units), das in beiden Arbeiten konstitutiv für die spezifische medienreflexive Befragung ist. Dieses Moment ikonischer Leere bzw. semantischer (narrativer) Unbestimmtheit bildet die zweite Gemeinsamkeit: Sowohl Watzal als auch Kowalski (re-)inszenieren und (re-)kombinieren gefundenes, alltägliches Bildmaterial – found-footage. Die KünstlerInnen rekurrieren auf serialisierte lapidare Bilder, auf Bilder eines kontinuierlichen visuellen Flows, auf Fernsehnachrichtenbilder sowie Bilder automatisierter digitaler Überwachung öffentlicher Orte. Die Chronologizität gereihter, komponierter Bilder des Films mündet im polysemen, visuell-kontingenten Bildstrom des Videos.
Sowohl Watzal als auch Kowalski inszenieren und analysieren nicht nur Systeme spezifischer Bilder, sie fragen, wie diese Bilder Zeit kondensieren, synthetisieren, aber auch fragmentieren und dissoziieren. Ist die temporalontologische Umgruppierung des Zeitlichen durch die Medien – wie Watzal sie am Beispiel der repetitiven Struktur von TV-Serien (oder der Nachrichten) analysiert – nicht längst konstitutiv für die Synchronisierung der Gesellschaft? Oder anders: Synchronisieren wir unseren Alltag nicht längst – zu einem erheblichen Teil – entlang den Wiederholungsstrukturen von Fernsehprogrammen? In diesem Sinn bildet das Fernsehen Zeit weniger ab, als es sie generiert.
[…]
Die ‘Dauer des Fragments’ bildet das Scharnier zwischen der chronoästhetischen Analyse Watzals und dem audiovisuell-narrativen Environment Kowalskis. Beide arbeiten mit einer Reihung arretierter, stillgestellter (Einzel-)Bilder bzw. mit Einstellungen, die kaum oder nur minimale Veränderung aufweisen. Die Arbeiten stehen dabei jedoch in einem komplementären Verhältnis zueinander: während Watzal mittels visueller und semantischer Entleerung das temporal-visuelle Dispositiv des Nachrichtenformats freilegt, evoziert Kowalskis Kombinatorik auditiver und visueller Bestandteile (source fragments) das Gegenteil: eine Verdichtung und Synthese zu einem ‘diegetischen’ Raum der Tele-Topoi.
Dariusz Kowalskis Strategie führt dabei vom Einzelnen zur Vielheit, von der semantischen und ästhetischen Einfachheit hin zu einer Polykontextualität. Der Künstler verwendet – wie bereits in früheren Videos auch – Bilder (Web-Downloads) versteckter Überwachungskameras öffentlicher Orte. Ebenso wie Watzal arbeitet er mit found-footage als videographischem Rohmaterial.
Das Video optical vacuum setzt sich gänzlich aus einer Reihung entpersonalisierter Funktionsbilder apparativer Überwachungssysteme zusammen. Es sind dies größtenteils Bilder uniformer Orte des Transits – Tele-Topoi zweiter Ordnung sozusagen. Diese Tele-Topographie beschreibt nicht länger ein Verhältnis zur Welt, „das sich noch in Begriffen von Nähe und Distanz beschreiben ließe, sondern das vielmehr ‘als unheimliche Vermählung von Kontinuität und Ferne’ erscheint”8. Kowalski montiert Einzelbilder zu Sequenzen, die sich zu ‘Einstellungen’ verdichten und deren Abfolge – ein Kontinuum der Brüche – zu einem ‘Film’, einer unbestimmten, inkongruenten und heterogenen Narration, synthetisiert werden kann.
In der Konstruktion eines narrativen Environments fügt der Künstler zudem eine Tonspur zum videographischen Laufbild hinzu: ein mittels Diktaphon aufgenommenes sowie abgespieltes ‘Tagebuch’. Die gesprochenen Textfragmente bzw. -einheiten treten in intermediale Wechselwirkung zum Bildkontinuum, semantisieren dieses simultan. In dem Differential von Sprache/Ton und Bild konvertiert die lineare Chronologizität zu einer raumzeitlichen Mehrdimensionalität: Jenseits der Narrationen ‘erster Ordnung’ des jeweiligen Primärmediums evoziert Kowalski eine Fiktionalitätsebene höherer Ordnung, die den semantischen Einheiten einen neuen Kontext innerhalb der Erzählgegenwart, das heißt der narrativen Performanz, verleiht. Die wechselseitigen Segmentierungen eröffnen syntagmatische Lücken, sodass der Zuschauer Verbindungen ‘einzutragen’ vermag.9 Das Interesse Kowalskis an Bildern teletopologischer Orte gilt somit weniger dem Verlust ihrer Referenz, sondern – und hierin liegt ihre ästhetische Evidenz – ihren möglichen medialen Koppelungen bzw. der Kontingenz und Unbestimmtheit ihrer möglichen semantischen Synthesen.
Kowalski arbeitet einem homogenen, konsistenten und kontinuierlichen Zeitablauf, wie ihn der ‘klassische’ Film zu strukturieren vermochte, geradezu entgegen. In der Heterogenität intermedialen Erzählens nähert sich Kowalskis ‘Film’ – stellt man ihn dem Dispositiv des Fernsehens gegenüber – vielmehr dem Modus des Monitoring, einem kontingenten, polysemen visuellen Strom, einem Strom simultaner Ereignisrezeption. Während der Film noch eine Konkretion des Blicks in Form von Fokussierungs-Sukzessionen darstellt, beschreibt Monitoring ein unkomponiertes, Sehen, einen bildhaften Fluss und damit weniger ein Bild als ein offen Sichtbares, ein polysem Sichtbares.10 Die Kontingenz und Polykontextualität audiovisuellen Erzählens mit all seinen Interferenzen, Leerstellen und heterogenen Koppelungen zeugt von einer Resistenz des Ästhetischen in Form einer hermeneutischen Undurchdringlichkeit11, einem Residuum von nicht in Sprache Übersetzbarem.
Sowohl Watzals als auch Kowalskis Arbeiten handeln vom Oszillieren zwischen Bild und Sichtbarem: Das videographische Bild zeigt sich als Folge, als Strom der Sichtbarkeit(en), als ein auf Dauer basierendes und Dauer evozierendes Zeitbild – als Bildkontinuum. Das videographische Bild im Sinne einer zeitlichen Spur, eines temporalen Flusses, unterliegt nicht mehr einer Unterordnung der Zeit unter die Bewegung, es evoziert eine direkte Erfahrung der Zeit im Sinne einer Dauer. Video bildet nicht bloß ein Medium des Zeitlichen, weil es Zeit moduliert, sondern weil es in der Dauer sich konstituiert. „Diese von Raum befreite Bewegung ist die nicht-chronologische Zeit, die Zeit des Ereignisses.”12 In diesem Fall ist der Augenblick ein Werden, das „anstatt zwischen Vergangenheit und Zukunft eingeklemmt zu sein, fruchtbar wird und weitere ontologische Koordinaten produziert.”13


1 Siehe: Katalog zur Ausstellung time offset, phase signatures , Wien: dreizehnzwei 2007. Im Kontext von source fragments, empty units ist hier vor allem die Arbeit von Albert Sackl angesprochen.

2 Stanley Cavell: Die Tatsache des Fernsehens. Konstanz: Adelmann et al. 2001, S. 143.

3 Vgl. Niklas Luhmann: Die Realität der Massenmedien. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2004, S. 152.

4 Ebd., S. 31.

5 Vgl. ebd., S. 179f.

6 Klaus Kreimeier: Schnittstelle Film/Fernsehen. Das Schicksal der Kino-Ikonographie im Fernsehen. In: Bildtheorie und Film. Hg. v. Thomas Koebner und Thomas Meder. München: Edition Text u. Kritik 2006, S. 595.

7 Niklas Luhmann: Die Realität der Massenmedien. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2004, S. 44.

8 Vrääth Öhner: Von der Gewöhnlichkeit des Unheimlichen. Serielle Ordnungen und Ordnungen des Seriellen im Fernsehen. In: Philosophie des Fernsehens. Hg. v. Oliver Fahle u. Lorenz Engell. München: Fink 2006, S. 180.

9 Vgl. John Fiske: Augenblicke des Fernsehens. Weder Text noch Publikum. In: Kursbuch Medienkultur. Hg. v. d. Fakultät Medien der Bauhaus-Universität Weimar. Stuttgart: DVA 2004, S. 243.

10 Vgl. Oliver Fahle: Das Bild und das Sichtbare. Eine Bildtheorie des Fernsehens. In: Philosophie des Fernsehens. Hg. v. Oliver Fahle u. Lorenz Engell. München: Fink 2006, S. 88.

11 Vgl. Knut Hickethier: Erzählen mit Bildern. Für eine Narratologie der Audiovisionen. In: Mediale Ordnungen. Erzählen, Archivieren, Beschreiben. Hg. v. Corinna Müller/Irina Scheidgen. Marburg: Schüren 2007, S. 104.

12 Maurizio Lazzarato: Videophilosophie. Zeitwahrnehmung im Postfordismus. Berlin: b_books 2002, S. 78. 13 Ebd.