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Seeing Voices


Text: Paul Ertl (©Filmladen)

Die ProtagonistInnen in SEEING VOICES sind zwar gehörlos, aber ohne Worte sind sie deshalb wahrlich nicht: Die Gebärdensprache birgt ein Paralleluniversum voller Ausdruckskraft und Magie, das den meisten Hörenden unerschlossen bleibt. Ayse, Helene und die gehörlosen Mitglieder der Familie Hager vermissen weder Musik noch das Zwitschern der Vögel, schließlich haben sie es nie gehört, sehr wohl aber das Recht auf ihre Muttersprache. Diesen schmalen Grat zwischen der hörenden und der gehörlosen Welt meistern sie alle auf völlig unterschiedliche Weise – aber keineswegs leise.

Eine Politikerin hält einen Vortrag, das Publikum applaudiert. Jugendliche tanzen in der Disco.
Ein Geburtstagkind bekommt ein Ständchen gesungen.
Gemeinsam haben alle, das sie gehörlos sind – Moment mal, geht das denn überhaupt? Vortrag halten, klatschen, singen, tanzen?
Und wie! Für Applaus gibt es in der Gebärdensprache eine eigene Gebärde. Musik erschließt sich den Tanzenden in der Disco über den Rhythmus, den sie spüren. Sogar „Happy Birthday“ singen kann man in Gebärdensprache. Und sie spüren die Schwingungen einer Gitarre, wenn sie die Hand darauf legen, sogar der singenden Stimme, wenn sie die Hand auf den Brustkorb der Sängerin legen.
Wenn gehörlose Menschen untereinander sind, fehlt es ihnen an nichts. Nur die Hörenden scheinen das manchmal nicht so recht zu glauben. So auch die Ärzte der Familie Hager – Vater, Mutter und Sohn gehörlos, Tochter hörend. Der neugeborene Emil hat die Gehörtests nicht bestanden und den Eltern wird zu einem sogenannten Cochlea-Implantat geraten, ein chirurgischer Eingriff am Gehirn, der dieses „Defizit“ vielleicht beheben könnte. Doch Barbara Hager möchte, dass sich ihr Kind zu allererst mit seiner Gehörlosenidentität wohlzufühlen lernt.
Barbara Hager weiß, wovon sie spricht: Sie hat ihre Diplomarbeit über das Identitätsverständnis von Gehörlosen geschrieben und hält auch Vorträge an der Universität. „Die medizinische Perspektive trägt wenig dazu bei“, gebärdet sie. Das versucht auch die gehörlose Politikerin Helene Jarmer bei einer Veranstaltung im Parlament klarzumachen: „Meine Identität kann man nicht wegoperieren.“ Denn Gehörlose haben keinerlei persönliches Defizit. Höchstens ein Bildungsdefizit: Denn von 10.000 gehörbeeinträchtigten Menschen in Österreich haben nur 50 die Matura. Mit der Bereitstellung von genügend geeigneten Mitteln, um dieses Bildungsdefizit zu beheben, ließen sich deutlich höhere Folgekosten an Beihilfen senken. Unter anderem dafür kämpft Helene Jarmer im Parlament – gehörlos, aber niemals lautlos.
Ayse ist Teil der jungen Generation, die die Früchte der Arbeit von Helene Jarmer und ihren MitstreiterInnen bereits ernten können: Nach einem Berufsvorbereitungskurs unter Gehörlosen beginnt sie eine Lehre in einem Schneiderbetrieb – gemeinsam mit Hörenden. Auf den ersten Blick ist Ayse wie viele andere Jugendliche in ihrem Alter, sie kichert viel, weil ihr ganz viel peinlich ist. Doch ihre Trainerin erklärt, dass damit ein unter jungen Gehörlosen verbreitetes Identitätsproblem verbunden ist: „Sie tut oft nur so, als ob sie etwas verstanden hätte, weil es ihr einfach peinlich ist. Sie haben das so stark im System drinnen!“
Doch die Zeichen stehen gut, dass mit dem beruflichen Selbstverständnis von Ayse auch ein Selbstbewusstsein in Bezug auf ihre Gehörlosigkeit einhergehen wird. Die Hagers oder Helene Jarmer haben diesen Identitätsfindungsprozess – auf völlig unterschiedliche Weise – bereits durchlaufen. Hoffnung gibt es auch auf der politischen Ebene: Österreich ist immerhin einer von nur vier europäischen Staaten, in denen die Gebärdensprache bereits in der Verfassung anerkannt wurde.


Seeing Voices feiert am 4.November
seine internationale Premiere bei DOK Leipzig.

Lars Meyer (Katalogtext)

Vor elf Jahren wurde die Österreichische Gebärdensprache verfassungsrechtlich als „eigenständige Sprache“ anerkannt. Doch von einem barrierefreien und damit inklusiven Alltag für Gehörlose ist man auch hier noch weit entfernt. Das gilt für den einfachen Gang zum Arzt ebenso wie für den Schulbesuch.

„Seeing Voices“ zeigt eine Welt, die für die Hörenden oft unsichtbar bleibt – allein schon dadurch, dass in diesem Film mehr gebärdet als gesprochen wird. In konzentrierten Bildern sensibilisiert er auf informative und unterhaltsame Weise für unterschiedliche Lebenssituationen, für die Gehörlose besondere Kommunikationsstrategien ausbilden müssen. Wie verständigt man sich etwa bei einem Tanzkurs? Welche Rolle kommt dem hörenden Kind eines gehörlosen Paares zu? Und wie sieht der Alltag einer gehörlosen Politikerin aus? Einer der eindrücklichsten Erzählstränge begleitet einen Berufsorientierungskurs für Gehörlose und zeigt später eine Teilnehmerin beim Praktikum in der Schneiderei. Angst und Scham darüber, sich nicht immer verständlich machen zu können, vermischen sich hier mit dem Spaß an der Sache und einem ganz besonderen Humor. Sehr deutlich wird, wie wichtig für die Jugendlichen neben der Fachkompetenz auch die Herausbildung einer eigenen Identität ist. Die Gebärdensprache ist dafür der Schlüssel. Es lohnt also, sich darauf einzulassen. Gerade als visuelle Erfahrung im Kino.

https://films2016.dok-leipzig.de/de/film/?ID=15231&title=Seeing+Voices