film

Ortem


Mit dieser Arbeit vollzog sich ein erster, spürbarer Bruch im Werk des Videokünstlers. 2004 veröffentlichte er ORTEM (= Metro rückwärts geschrieben). Dieser zwanzigminütige Kurzfilm ist eine Art abstraktes Porträt des Wiener U-Bahn-Systems. Für einige Wochen begab sich Kowalski mit einer herkömmlichen Videokamera in den Wiener Untergrund. Die kontrastreichen, meist stark weitwinkeligen Handkamera-Aufnahmen zeigen die spezifische 70er-Jahre-Architektur vorwiegend menschenleer. Horizontale und vertikale (Aufzüge) Kamerafahrten verdichten sich zu einem labyrinthischen Raumerlebnis.
Mittels der subjektiven Kamera werden die verschiedenen Wahrnehmungsmodalitäten innerhalb des U-Bahn-Netzwerks definiert und kapitelartig gereiht. Nur einmal verläßt Kowalski den unterirdischen Raum und zeigt einen oberirdisch verlaufenden Streckenabschnitt des U-Bahn-Netzes aus der “Vogelperspektive” eines Hubschraubers. Unterbrochen wird der suggestive Bilderfluss wie ein Stummfilm durch Textinserts mit weissen Lettern auf rotem Grund. Kowalski, der ORTEM nicht nur im Alleingang gedreht, sondern auch montiert hat, strukturiert auf diese Weise sein Video und webt mit den Zwischentiteln eine zusätzliche reflexive wie poetische Ebene ein, die dem Werk einen eigentümlichen, essayistischen Charakter verleihen.

(Norbert Pfaffenbichler, In: KOLIK FILM, Sonderheft 17/2012)


Text: Helmut Weihsmann

Ausgangspunkt dieses kurzen und phantasievollen Experimentalvideos ist das Wiener U-Bahn-Netz aus den 1970er Jahren der Arbeitsgruppe Wilhelm Holzbauer, Heinz Marschalek, Georg Ladstätter und Norbert Gantar, deren gestalterische Klarheit, abstrakt-kühne Formensprache und semiotische Lesbarkeit vorbildlich für zeitgemäßes und urbanes High-Tech-Design wurde. Bei immer gleich bleibenden Montageprinzipien und Reihung der Bauelemente erreichte man ein variables und wechselseitiges Zusammenspiel der Ordnungen, Maßstäbe und Variationen der Formen. Diese Elemente der Gestaltung sind eigentlich keine Ansammlung beliebiger Ornamente, sondern stellen einen strigenten Bausatz dar. Es ist das, was sich amerikanische Industriedesigner in den 30-er und 40-er Jahren immer als „Streamline Moderne“ erträumten, was sie jedoch außer in den utopischen SF-Filmen nie ganz verwirklichen konnten. In dieser kleinen aber feinen Formübung erkundete, erforschte und dokumentierte der einheimische Medienkünstler Kowalski präzise das urbane Zeichen-, Bau- und Raumsystem der Wiener U-Bahn, das im Laufe der filmischen Erkundigung immer stärker zu einem seltsam futuristisch inspirierten und beklemmenden Science-Fiction-Szenario mutiert. Kowalski wählte hierfür verschiedene (gar unheimliche, weil menschenleere) Orte und Knotenpunkte im U-Bahn-System, um die Vielfalt und Komplexität der unterirdischen Räume, Gänge und röhrenförmige Haltestellen im ganzen Stadtgebiet zu zeigen. Die sowohl gelungene Konzeption als auch klare Struktur des Films beruht auf die Repetition und den konstanten Rhythmus – besser: Impuls – der Bilder in einem dialektischen Wahrnehmungsprozess von Form, Ordnung und Geschwindigkeit. In brillanter Rasanz taucht dabei die Kamera in Sequenzen eines Meta-Raum-Systems und erkundet scheinbar imaginäre, doch fast alltägliche Räume des Verkehrs, des Dahingleitens und der poetischen Stille in „sinfonischer“ Art und Weise.


Ortem text by Dariusz Kowalski.
Translation: Helga Droschl

Theme of the film: Topic of the work is the subway traffic system, which creates, through its underground architecture, a specific space- and perception situation. The film as abstract essay focuses on phenomena such as speed, perception, architecture, memory and analyses the fleeting and anonymous aspect of the every day experience. The debate on the representability of spaces and locations meets real architecture. The cinematographic reflection of social & cultural dispositiva of the urban space explores the intersections fabricating this space.
Underground network: The underground station is a transit space which does not claim another meaning, except being a channel, a point of intersection within a traffic-network. It is a terminal, a space ‚without features‘. Its definition is a road traffic-related task, a space co-ordinate of the urban grid of lines.
Movement, perception, space: The increased speed of means of transport within the underground tunnel system – the narrowness of space – creates a specific perception, which lacks the visual relation to the space outside – contrary to traveling by train or flying, where high speed always has a reference point to the landscape. ‚Traveling by the underground‘ means to be already at the aiming destination. The journey itself remains a blind spot in the perception of the change in locations. The increased speed creates an ambivalent situation; the body in motion is dependent on the view (see traveling on motorways), on the other hand, there is nothing to see. The reduction of the world outside the tunnel triggers the imagination or memory.
Film & architecture: The architectural organization of urban and technical movement in the twentieth century was continued by the central-perspective position of the film camera (Lummiere’s films) and created thus a real, comprehensible experience value in the reception of the viewer.
In the underground system the central-perspective is led ‘ad absurdum’; everything strictly is aligned with the vanishing point – the tracks meet at the vanishing point, at its end, however, now space emerges, but an endless grid – never to be graspable as a whole. The stops, elevators, transits and tunnels form an ‚organless body‘, where the passenger instead of ‚space‘ experiences its proper co-ordinates within the network . The characteristics of space are rather marked through movement and space transitions.